Von Vandana Shiva – Quelle: vandana-shiva.de
Das Netz des Lebens ist ein Nahrungsnetz, und wir sind mit den natürlichen Systemen und allen Lebewesen verbunden. Ernährungssouveränität ist daher in erster Linie ein ökologischer Prozess der gemeinschaftlichen Schöpfung mit anderen Lebensformen. Ernährungssouveränität beginnt mit dem Recht aller Lebewesen, der biologischen Vielfalt und des »lebendigen« Saatguts, zu gedeihen und sich zu entwickeln, und mit dem Recht des Bodens und der Lebensmittel, nicht als träge Materie betrachtet zu werden. Die Rechte der Erde sind die Grundlage für das Recht auf Ernährungsfreiheit und Ernährungssouveränität. Es kann keine Ernährungssouveränität ohne Saatgutsouveränität geben, d. h. das Recht, traditionelles, widerstandsfähiges, einheimisches Saatgut zu bewahren und zu verwenden. Diese Tätigkeit beinhaltet notwendigerweise die Pflege von Land und Boden. Wir können keine Ernährungssouveränität erreichen, wenn wir die Bodenorganismen nicht pflegen, denn die Artenvielfalt des Ökosystems unterstützt die Artenvielfalt in unserer Darmflora, dem Mikrobiom. Die Gesundheit des Planeten und unsere Gesundheit sind ein und dasselbe.
Saatgutsouveränität bedeutet, dass das Saatgut in den Händen der Landwirte bleibt; Saatgut, das frei gelagert, gezüchtet und ausgetauscht werden kann; natürlich bestäubtes Saatgut, das nicht patentiert oder gentechnisch verändert ist und sich nicht im Besitz oder unter der Kontrolle von Agrarkonzernen befindet. Saatgutsouveränität basiert auf der Rückgewinnung von Saatgut und biologischer Vielfalt als Gemeingut und öffentliches Gut. Wenn das Nahrungsnetz durch Chemikalien, Gifte und die Regeln des »freien Handels« und der Globalisierung zerstört wird, wird die biologische Vielfalt ausgelöscht, die Landwirte verschulden sich und die Menschen sterben an Hunger oder an chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten, die mit Umweltverschmutzung und schlechter Nahrungsmittelqualität zusammenhängen. Ernährungssouveränität beinhaltet das Recht, Lebensmittel frei von Chemikalien und GVO anzubauen. Ernährungssouveränität bedeutet giftfreie Lebensmittel und Landwirtschaft.
1987 war ich zu einer Tagung über Biotechnologie eingeladen, auf der deutlich wurde, dass die Möglichkeit, Lebensformen aus Profitgründen zu patentieren, der eigentliche Zweck der Markteinführung von GVO war. Damals beschloss ich, im Rahmen der Bewegung, die sich seit 1991 Navdanya nennt, mit der Rettung von Saatgut zu beginnen. Seitdem sind in Indien mehr als 150 gemeinschaftliche Saatgutbanken eingerichtet worden. Lokales Saatgut, das an die lokalen Kulturen angepasst ist, liefert mehr Nährstoffe und ist widerstandsfähiger gegen den Klimawandel. Auf der Navdanya Farm und der Earth University haben wir mehr als eine Million Landwirte geschult, die nun biologische Landwirtschaft auf der Grundlage von Biodiversität und ohne den Einsatz synthetischer Chemikalien betreiben.
Die Abkehr von der durch multinationale Konzerne vorangetriebenen Globalisierung und eine Entwicklung hin zu einer fortschreitenden Lokalisierung unserer Wirtschaft ist zu einem ökologischen und sozialen Imperativ geworden, der für die Ernährungssouveränität unerlässlich ist. Die Unterstützung der lokalen Wirtschaft bedeutet, dass alles, was vor Ort unter Nutzung lokaler Ressourcen produziert wird, geschützt werden sollte, um sowohl das Leben der Menschen als auch die Umwelt zu schützen. Ernährungssouveränität bedeutet daher biodiverse, zirkuläre und lokale Lebensmittelsysteme.
Das globalisierte industrielle Nahrungsmittelsystem hat vor kurzem ein neues Monster hervorgebracht, moderne synthetische, künstlich im Labor hergestellte Nahrungsmittel. Von denen wird sogar behauptet, dass sie die beste Lösung für die Gesundheit des Planeten und der Menschen seien. Es ist wichtig zu bedenken, dass künstliche Lebensmittel von der industriellen Landwirtschaft abhängen, zum Beispiel von Soja-Monokulturen mit hohem Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden und in einigen Fällen von gentechnisch verändertem Soja. Ernährungssouveränität bedeutet, dass wir uns von echten, unverfälschten, biologisch angebauten Lebensmitteln ernähren und uns von den falschen Versprechungen künstlicher Nahrung befreien.
Deshalb müssen die von Konzernen aufgestellten Regeln des Freihandels, die Hunger, Krankheit und Klimaveränderungen fördern, korrigiert werden. Die Rechte der Erde und die Menschenrechte sind die Grundlage für Ernährungsfreiheit und Ernährungssouveränität. Überall auf der Welt betreiben Kleinbauern bereits eine ökologische Landwirtschaft, die auf biologischer Vielfalt und echten Lebensmitteln ohne Chemikalien beruht. Sie praktizieren Agrarökologie, indem sie ihre Böden und ihr Saatgut bewahren und pflegen. Sie versorgen ihre Gemeinden mit gesunden, nahrhaften Lebensmitteln und regenerieren gleichzeitig die Böden und den Planeten. Echte Landwirtschaft wird im Einklang mit den Gesetzen der Natur betrieben und führt zur Regeneration des Planeten durch die Erneuerung der Artenvielfalt, der Böden und des Wassers. Wir müssen kleine landwirtschaftliche Betriebe unterstützen, die sich um die Erde und alles Leben kümmern und biologisch angebaute, gesunde, frische und umweltfreundliche Lebensmittel für alle erzeugen.